Gutachten der Monopolkommission: Wer wirklich von hohen Lebensmittelpreisen profitiert
Wer von hohen Lebensmittelpreisen profitiert – Marktmacht, versteckte Mechanismen und die strukturellen Schieflagen der deutschen Lebensmittellieferketten
Die stille Umverteilung an der Supermarktkasse
Deutschland erlebt seit Jahren einen Anstieg der Lebensmittelpreise, der weit über das hinausgeht, was mit globalen Krisen, Energiepreisschocks oder Ernteausfällen erklärt werden könnte. Während Haushalte ihre Einkaufszettel zusammenstreichen und Landwirte immer lauter Alarm schlagen, mehren sich die Hinweise auf ein strukturelles Problem – und auf eine Branche, deren Marktmacht kaum noch zu übersehen ist.
Die neue Untersuchung der Monopolkommission liefert nun detaillierte Einblicke, die das diffuse Gefühl vieler Verbraucher bestätigen: Nicht die Landwirte profitieren von den steigenden Preisen – sondern vor allem der Handel. Die 287 Seiten des Sondergutachtens „Wettbewerb in der Lebensmittellieferkette“ legen offen, wie ungleich die Kräfte entlang der Kette verteilt sind und warum sinkende Erzeugerpreise nur in Zeitlupe bei den Kunden ankommen.
Ein Blick auf ein Grundnahrungsmittel: Milch als Beispiel für eine Schieflage
Kaum ein Lebensmittel verdeutlicht die Mechanismen im Markt so plastisch wie Milch. 2014 kostete ein Liter im Supermarkt rund 70 Cent. Davon landeten 40 Cent bei den Landwirten – ein Anteil, der bereits damals kaum genug war, um kostendeckend zu wirtschaften.
2023 hingegen lag der Preis für dieselbe Menge Milch bei 1,05 Euro. Die Bauern erhielten weiterhin 40 Cent.
Damit ist der Kern des Problems präzise markiert:
Der Preis an der Kasse stieg um 50 Prozent – der Erzeugererlös um genau 0 Prozent.
Für Tomaso Duso, Vorsitzender der Monopolkommission, ist dieses Beispiel „besonders drastisch“, aber keineswegs einzigartig. Vielmehr stehe es für ein strukturelles Phänomen entlang der Lieferkette: Wenn Preise steigen, geschieht das schnell und mit voller Wucht. Wenn Preise fallen, werden sie verzögert und unvollständig weitergegeben – und zwar auf mehreren Stufen.
Die Folge: Der Handel dehnt seine Marge aus, während Landwirte und Verbraucher unter Druck geraten.
Die Macht der großen Vier: Ein Markt, der immer enger wird
Die Marktkonzentration im deutschen Lebensmitteleinzelhandel hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Dynamik entwickelt, die selbst in anderen europäischen Ländern kaum zu finden ist.
Im Jahr 2000 kontrollierten die vier großen Ketten – Edeka, REWE, Aldi und die Schwarz-Gruppe (Lidl und Kaufland) – etwa 67 Prozent des Gesamtumsatzes.
2023 waren es bereits 87 Prozent.
Daraus ergibt sich ein simples, aber gravierendes Verhältnis:
Der gesamte Rest des Wettbewerbs – von Biofachhändlern bis zu regionalen Supermarktketten – teilt sich nur noch 13 Prozent des Marktes.
In einem solchen Marktumfeld ist echter Preiswettbewerb kaum noch möglich. Die Monopolkommission zieht daher eine klare Linie:
Je konzentrierter ein Markt, desto einfacher lässt sich Marktmacht nutzen – und desto schwerer haben es Erzeuger und kleine Anbieter.
Preisentwicklung im europäischen Vergleich: Deutschland als Sonderfall
Ein weiteres Warnsignal liefert der Blick über die Landesgrenzen. Die Lebensmittelpreise sind in Deutschland seit 2020 stärker gestiegen als in vergleichbaren EU-Staaten. Zwar sind steigende Energiepreise, teurere Rohstoffe und pandemiebedingte Lieferkettenstörungen europäische Realitäten – doch die Stärke des Anstiegs in Deutschland sticht hervor.
Für die Monopolkommission ist dies ein zusätzlicher Indikator dafür, dass die Marktmacht des Handels eine Rolle spielt. Denn während in anderen EU-Staaten stärkere Wettbewerbskontrollen oder eine breitere Einzelhandelslandschaft wirken, sind in Deutschland die Strukturen enger und die Durchsetzungsfähigkeit großer Anbieter größer.

Kurz gesagt:
Was anderswo der Wettbewerb verhindert, kann hierzulande passieren – und passiert auch.
Der Preis bleibt kleben: Warum sinkende Erzeugerpreise kaum bei Verbrauchern ankommen
Ein zentrales Ergebnis des Gutachtens betrifft die Weitergabe von Rohstoffpreisen. Steigen die Erzeugerpreise – etwa für Milch, Getreide oder Fleisch –, reagieren Supermärkte sehr schnell. Die Preisanpassung ist unmittelbar an der Kasse sichtbar.
Sinken die Preise dagegen, geschieht zweierlei:
- Die Weitergabe ist unvollständig.
Händler geben nur einen Teil der gesunkenen Einkaufskosten an die Verbraucher weiter. - Die Weitergabe erfolgt verzögert.
Preisreduktionen sickern Wochen oder Monate später durch – manchmal gar nicht.
Dieses Muster zeigt sich nicht nur bei Frischprodukten, sondern auch bei verarbeiteten Lebensmitteln. Die Monopolkommission spricht hier von „asymmetrischer Preistransmission“ – ein Phänomen, das typischerweise in Märkten mit starker Konzentration und schwacher Verhandlungsmacht der Lieferanten auftritt.
Für die Verbraucher bedeutet das:
Sie zahlen oft mehr, als es die Marktbedingungen eigentlich erfordern würden.
Für Landwirte bedeutet es:
Sie können Preissteigerungen kaum durchsetzen, Preisrückgänge aber spüren sie sofort.
Landwirte zwischen Verarbeitern und Handel: Die schwächste Position der Kette
Landwirte sind in der deutschen Lebensmittellieferkette traditionell die schwächsten Akteure. Ihre Verhandlungsmacht ist gering, ihre Abhängigkeiten von Abnehmern groß. Viele Erzeuger berichten, dass sie keine realistische Möglichkeit haben, gegen unfaire Bedingungen vorzugehen – aus Angst, ihre Absatzkanäle zu verlieren.
Ein Verbandsklagerecht für Landwirte existiert nicht. Die Monopolkommission betont, dass sich viele betroffene Betriebe nicht an das Bundeskartellamt wenden, selbst wenn sie von unfairen Bedingungen betroffen sind. Die Sorge vor Repressalien durch Verarbeiter oder Händler ist zu groß.
Es ist ein System, das von außen wie eine klassische Machtpyramide aussieht:
- Oben: Einige wenige Handelsriesen
- Mitte: Verarbeitungsbetriebe und Molkereien
- Unten: Tausende Landwirte, stark fragmentiert
In einer solchen Struktur ist Machtverteilung kein abstrakter Begriff, sondern gelebte Realität – jeden Tag, bei jeder Preisanfrage.
Übernahmen und Fusionswellen: Wie der Wettbewerb geschwächt wurde
Die Monopolkommission diagnostiziert klar, dass insbesondere die Übernahme von Kaiser’s Tengelmann durch Edeka im Jahr 2017 dem Wettbewerb „erheblich geschadet“ habe. Diese Übernahme habe in mehreren Ballungsräumen die Auswahl für Verbraucher verringert und die Verhandlungsmacht des Handels weiter verstärkt.
Das Gremium zieht daraus die Konsequenz, dass Fusionskontrollen künftig deutlich strenger ausfallen müssen. Es gebe, so die Kommission, „kaum noch Raum für weitere Fusionen im Lebensmitteleinzelhandel“.
Auch in anderen Segmenten des Markts sieht die Kommission Gefahren:
Die wachsende Bedeutung von Eigenmarken führt zu einer vertikalen Integration, durch die der Handel nicht nur den Vertrieb, sondern zunehmend auch Teile der Herstellung kontrolliert.
Damit verstärkt sich der Druck auf Markenhersteller – und indirekt wiederum auf Landwirte.
Warum die Monopolkommission keine Entflechtung fordert – und was das bedeutet
Trotz der klaren Diagnose fordert die Monopolkommission keine Zerschlagung der großen vier Handelsketten. Die Begründung ist pragmatisch: Eine Entflechtung wäre nicht nur politisch schwer durchsetzbar, sondern auch praktisch ein jahrelanger, extrem bürokratischer Prozess.
Stattdessen setzt das Gutachten auf:
- effizientere Anwendung bestehender kartellrechtlicher Regeln
- verdachtsunabhängige Untersuchungen bei Preisbildung und Lieferbeziehungen
- ein Verbandsklagerecht für Landwirte
- strengere Kontrolle weiterer Übernahmen
- stärkere Beobachtung der vertikalen Integration (Eigenmarken)
Diese Vorschläge sind weniger spektakulär als eine branchenweite Zerschlagung – aber realistischer, schneller umzusetzen und im europäischen Wettbewerbsrahmen verankert.
Der Widerstand des Handels: Höhere Kosten als Rechtfertigung
Der Handelsverband Deutschland weist die Kritik der Monopolkommission zurück. Die Branche verweist auf gestiegene Kosten für Energie, Personal und Wareneinkauf. Nach dieser Argumentation funktionieren die Marktmechanismen problemlos: Die Preise seien deshalb gestiegen, weil sämtliche Kosten gestiegen seien.
Doch das Gutachten macht deutlich, dass dies nur einen Teil der Wahrheit abbildet. Ja, die Kosten sind gestiegen – aber die Gewinnmargen sind es ebenfalls. Und das genau in einer Zeit, in der Verbraucher und Landwirte gleichermaßen über Belastungen klagen.
Das zentrale Problem bleibt deshalb bestehen:
Die Preisbildung in Deutschland ist weniger durch Wettbewerb als durch Marktmacht geprägt.
Die Perspektive der Verbraucher: Belastung ohne Gegenleistung
Für Millionen Haushalte bedeutet der Preisanstieg bei Lebensmitteln eine reale Verschlechterung ihres Lebensstandards. Das spiegelt sich in Statistiken des Konsumverhaltens wider:
- weniger Frischprodukte
- Rückgang beim Kauf höherwertiger Lebensmittel
- Anstieg des Konsums günstigerer, stark verarbeiteter Produkte
- zunehmende „Einkaufsflucht“ ins Ausland in Grenzregionen
Lebensmittelpreise wirken wie eine stille Steuer – sie belasten vor allem jene, die keine Ausweichmöglichkeiten haben.
Die Perspektive der Landwirtschaft: Strukturelle Erosion
Viele Landwirte stehen seit Jahren unter massiven wirtschaftlichen Druck. Das Gutachten bestätigt, was in vielen Betrieben bereits bittere Realität ist:
- Kosten steigen
- Erzeugerpreise stagnieren
- Lieferbeziehungen sind oft einseitig
- Verhandlungsmacht fehlt
- die Betriebe schrumpfen oder geben auf
Dass trotz der Preisexplosion 2023 der Anteil an den Milchbauern exakt so niedrig blieb wie 2014, ist dabei nur ein Beispiel unter vielen.
Die großen Linien: Was das Gutachten langfristig bedeutet
Das Gutachten der Monopolkommission ist kein Alarmismus – es ist eine faktenbasierte, detaillierte Bestandsaufnahme eines Marktes, der in den letzten Jahrzehnten unbemerkt eine neue Struktur angenommen hat.
Die politische Debatte über Lebensmittelpreise krankt oft daran, dass sie inflationäre Effekte isoliert betrachtet. Das Gutachten schiebt dieses Bild zurecht:
Hohe Lebensmittelpreise sind nicht nur Folge äußerer Schocks, sondern Ausdruck struktureller Machtverschiebungen im Handel.
Dies hat langfristige Konsequenzen:
- Verbraucher zahlen mehr, als Marktbedingungen rechtfertigen.
- Landwirte erhalten weniger, als sie wirtschaftlich bräuchten.
- Der Wettbewerb im Lebensmitteleinzelhandel schwindet weiter.
- Die politische Handlungsfähigkeit wird herausgefordert.
Ein Markt am Wendepunkt – Wer von hohen Lebensmittelpreisen profitiert
Das Gutachten ist ein Wendepunkt, weil es sachlich, empirisch und unaufgeregt zeigt, wo die Probleme liegen – und wer von der aktuellen Preisentwicklung profitiert.
Die Antwort ist klar:
Es sind nicht die Landwirte. Es sind die Händler.
Das bedeutet nicht, dass der Handel unrechtmäßig handelt. Aber es bedeutet, dass der Wettbewerb seiner Funktion nicht mehr gerecht wird.
Für die Politik wird es darauf ankommen, die Empfehlungen nicht zu ignorieren. Strengere Fusionskontrolle, bessere Ermittlungsbefugnisse, ein Verbandsklagerecht und ein wachsameres Bundeskartellamt wären Schritte hin zu einem Markt, der wieder ausgeglichener funktioniert.
Denn eines zeigt das Beispiel Milch unmissverständlich:
Wenn der Wettbewerb nicht funktioniert, zahlen am Ende die Verbraucher – und die Landwirte mit.
Wer von hohen Lebensmittelpreisen profitiert – Wir bleiben am Ball für Sie. BerlinMorgen.
Wer von hohen Lebensmittelpreisen profitiert Quelle: Monopolkommission Sondergutachten



























